Je betroffener man von einem problematischen Sachverhalt ist, desto höher ist das Interesse, diesen Sachverhalt positiv zu verändern. Je größer dieses Interesse, desto mehr Energie wird man aufbringen, und je mehr Energie aufgebracht wird, desto wahrscheinlicher ist der Erfolg, eine Veränderung zu erzielen. Auf dieser einfachen Logik basiert unsere Herangehensweise von Entwicklungszusammenarbeit, abgekürzt EZ. Diese Gleichung entspricht gewissermaßen unserer Alltagserfahrung und ist zu einleuchtend, um sie nur auf die EZ anzuwenden, denn es lassen sich daraus auch Schlüsse und Handlungsweisungen für die Personalführung in Unternehmen, für die Politik und sogar für das Familienleben ziehen. Insofern sind wir froh und zugleich keineswegs überrascht, dass unser neustes Projekt einen Lösungsvorschlag für das zurzeit viel diskutierte Integrationsproblem darstellt. Mustafa Nasiri, Doktorand an der Uni Gießen, hat dieses Projekt mit in unsere „Projektmanagement Sommerakademie“ gebracht und wurde damit am letzten Tag zum Gewinner des Präsentationswettbewerbs gekürt.
Mustafa ist Exil-Afghane, er ist ein Flüchtling, der sein Land verlassen musste, weil, wie er selbst sagt, Terroristen 2021 dort die Macht übernommen haben. Sein Schicksal teilt er mit tausenden anderen Flüchtlingen, und mit wachsendem Unbehagen sieht er die öffentliche Debatte um die Flüchtlingspolitik in immer extremere Richtungen abdriften. Dabei hat er prinzipiell nichts gegen einfache Lösungen einzuwenden, denn auch seine Lösung für eine erfolgreiche Integration ist einfach: Flüchtlinge kümmern sich um Flüchtlinge.
Mustafa ist Mitglied eines Netzwerkes von Exil-Afghanen, die in den letzten Jahren und Jahrzehnten ihr Land verlassen mussten und mittlerweile in Deutschland ihre neue Heimat gefunden haben. Darunter sind Ärzte, Lehrer, Installateure und Agrarwissenschaftler, wie es Mustafa ist. Alle sind sie integriert, alle haben es geschafft, und alle leiden mehr als jeder in Deutschland Geborene an dem schleppend lahmen, ineffektiven Integrationssystem. Aus Mustafas Erfahrung dauert es 5 bis 7 Jahre, bis es ein afghanischer Flüchtling geschafft hat, sich in Deutschland zu integrieren, wenn er oder sie allein auf die staatlichen Stellen angewiesen ist. Endlose Behördengänge, ewiges Warten auf einen Sprachkurs, niemand der einen die Logik des Trennens von Staat und Religion erklärt, all das führt zu Frustration, Kulturschock, Missverständnissen und Misstrauen. Am Ende einer Kaskade aus Frustration kann es zu nicht seltenen Fällen von häuslicher Gewalt in den afghanischen Familien und zu seltenen Fällen von extremer Gewalt in der Öffentlichkeit kommen. Das letztere prägt leider das Bild in der Gesellschaft und schürt die Debatte um die Einwanderungspolitik. Auch wenn es nur ein verschwindend kleiner Anteil krimineller und gewaltbereiter Personen an der Gesamtheit aller Migranten ist, bestimmen deren Taten, wie die Gesellschaft auf alle schaut. Die Folge sind wieder Mißtrauen, Haß und Gewalt, aber dieses Mal bei den Deutschen gegen die Migranten. Die große Mehrheit der längst Integrierten leidet darunter, sie werden auf der Straße mißtrauisch beäugt, sie bekommen keine Wohnung, sie werden bei der Jobsuche benachteiligt etc. Mit anderen Worten sie werden konfrontiert mit unnötig plagenden Situationen, die es ihnen noch schwerer machen sich zu integrieren, obwohl sie sich doch längst integriert haben.
Mustafa ist also direkt Betroffener, er hat ein sehr ehrliches, weil geradezu egoistisches Interesse daran, die Situation zu ändern. Dementsprechend hoch ist seine Bereitschaft, Energie in die Sache zu stecken. Aus eigener und der hundert anderer Erfahrungen kennt er das Problem des ineffektiven Integrationssystems, und aus ebenso direkter Erfahrung weiß er auch, wie es viel besser funktioniert. 2021 kam sein jüngerer Bruder Ali Sina nach Deutschland. Anstatt ihn in einer anderen Stadt wohnen zu lassen, hatte Mustafa ihn sofort zu sich nach Gießen geholt und die notwendigen Schritte zur Integration selbst organisiert. Es hat zwei Jahre gedauert, dann hatte Ali Sina eine feste Stelle als Ingenieur.
Nicht jeder bringt die Voraussetzung mit, ein Ingenieur zu werden, aber jeder kann innerhalb von zwei Jahren ein gut integrierter Teil der Gesellschaft werden, egal ob Afghane, Syrer oder Sudanese, darüber ist sich Mustafa sicher. Der Schlüssel liegt darin, dass ein Neuankömmling einen schon integrierten Landsmann braucht, einen Mentor, der oder die ihm die Integration ebnet. Zusammen mit seinem Netzwerk aus 700 Exil-Afghanen möchte Mustafa ein entsprechendes Mentoring Programm erstellen und es im ersten Jahr mit 50 Flüchtlingen testen. Die frei-und-sehr-willigen Mentoren stehen bereit, die ersten 50 Flüchtlinge auch, die psychologische, ärztliche, rechtliche und sonst noch benötigte Betreuung ist im Diaspora Netzwerk verfügbar, afghanische Sozialwissenschaftler machen das begleitende Monitoring. Kosten für die Organisation, für Reisen innerhalb Deutschlands, für selbst-organisierte Sprachkurse werden aber entstehen. Die ersten 2000 € wird der Weltweit e.V. stellen, zu weiteren Spenden laden wir gerne ein. Letztlich wird dieser Weg der Integration nur einen Bruchteil des ineffektiven Weges staatlicher Institutionen kosten, und das Beste ist, er wird für alle angenehmer von statten gehen. Deshalb trägt Mustafas Pilotprojekt auch den Namen: Pathways to Joyful Integration. Integration ist ganz gewiß erfolgreicher, wenn sie auch Spaß macht, und zwar beiden Seiten, also den Neuankömmlingen und den Alteingesessenen. Dass Mustafas Vorhaben das Richtige ist, davon sind wir überzeugt, denn es basiert auf Selbstorganisation der am stärksten Betroffenen, die zugleich die Bestqualifiziertesten sind. Also let’s do it!